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Géraldine Waespi

Index 10: Wieso persönliche Gebrauchsgegenstände wichtig sind

Unsere Gastautorin Géraldine Waespi pflegt eine sorgfältige Beziehung mit den Gegenständen um sie herum. Warum ihr diese so wichtig sind, ergründet sie seit geraumer Zeit und ist dabei auf Erklärungen in Theorie und Praxis gestossen. Ihre Erfahrungen, darunter ein Gespräch mit der international anerkannten Stylistin Connie Hüsser, haben sie angeregt, einige Erkenntnisse in diesem Text zu sammeln.


Ich liebe Gegenstände, aller Art. Schöne, praktische, solche, die ein bisschen blöd, aber charmant sind. Die, die mich an liebe Menschen in meinem Leben erinnern und jene, die durch einen lustigen Zufall in meinen Besitz geraten sind. Sie bereichern meinen Alltag auf unterschiedliche Weise und das schätze ich sehr. Meine Begeisterungsfähigkeit für Objekte bringt mich aber in unregelmässigen Abständen an den Rand der Verzweiflung. Dabei ist das Umziehen mit so vielen Gegenständen weniger eine Herausforderung, als das blosse Umgeben-sein von meinem Besitz. Überall wo ich hinsehe, gibt es etwas zu sehen und es fühlt sich an, als sei in meinem Kopf kein Platz mehr zum Denken da. Mein Kopf, der dann soviel Raum zum Nachdenken braucht, dass er sich zeitweise auf die Grösse des Zimmers ausdehnt, indem er gerade zu denken versucht.


Angetrieben von diesem Zwiespalt untersuche ich deshalb seit längerer Zeit das Verhältnis zu den Alltagsgegenständen, mit denen wir uns umgeben. Im Zentrum steht dabei die Frage, warum persönliche Gebrauchsgegenstände wichtig sind. Dieser Text hier bildet einen Zwischenstand meiner Suche ab und fasst Erkenntnisse aus verschiedenen Arbeiten zusammen. Eine davon – ein Interview mit Connie Hüsser – bildet die Grundlage für diese Ausgabe.

Treppen und Torten


Die Frage nach dem Verhältnis zu unserem Besitz ist eine listige, weil sie sehr vielschichtig ist. Ein bisschen wie bei einer Torte, die einem vom ersten Gabelstich an schmeckt, obwohl man ihre einzelnen Schichten geschmacklich nicht so genau auseinanderhalten kann. Um zu verstehen, weshalb wir besitzen, wie wir besitzen, müssen wir diese Beziehung in die einzelnen Schichten unterteilen, in denen sie wirkt.


Dabei ergibt sich eine erste Schwierigkeit. Ähnlich wie bei der Torte, wissen wir meist vom ersten Augenblick an, ob wir sie mögen oder nicht. Dieses Urteil treffen wir mehrheitlich intuitiv, wobei der Prozess dazu unbewusst stattfindet. Weil wir uns für unser Mögen oder nicht-Mögen im Alltag selten rechtfertigen müssen, sind wir es nicht gewohnt, diese Entscheidungen zu hinterfragen. Wir sind uns auch nicht gewohnt, darüber zu sprechen und uns anderen zu erklären. Ich kann über Erdbeeren sprechen und darüber, dass ich Zitronenglasur nicht mag. Aber erklären, warum ich den blauen Bauklotz meines Nachbarskindes aus dem Abfall gezogen habe, da komme ich nicht über ein: „Naja, ich finde es halt ein lustiges Objekt“, hinaus. Es ist also schwierig, über einen Prozess zu sprechen, der intuitiv abläuft, weil wir uns nicht gewohnt sind, darüber zu sprechen, was da genau passiert. Hierbei handelt es sich aber um eine Frage des Bewusstseins und des Vokabulars – beides eine Übungssache. Mittlerweile kann ich daher anfügen, dass ich das blau des Bauklotzes mag und mir seine treppenartige Form sehr gut gefällt. Eine kleine, blaue Treppe ins Nichts sozusagen, das finde ich schön.

Gert Selle und das „Einstweh


Möchte man die Beziehung zwischen Mensch und Objekt in ihre einzelnen Schichten unterteilen, stellt sich die Frage nach einer geeigneten Kategorisierung. Ein wissenschaftlicher Ansatz zu den Ebenen, in denen das beschriebene Verhältnis funktioniert, liefert Gert Selle. Er beschäftigt sich mit den Funktionen, die ein Objekt für uns übernimmt und teilt dessen Wirkung in drei Ebenen ein: die Teilhabe an einer industriellen Produktkultur, die Ebene der persönlichen Erinnerungsbildung und als drittes die Ebene der sozialen Zuordnung. Betrachten wir diese drei Funktionsebenen genauer, kommen wir der Frage nach der Wichtigkeit von Gebrauchsgegenständen ein Stück näher.


Die erste Ebene beschreibt, wie ein Produkt immer auch Ausdruck der Zeit ist, in der es entstand. Produktionsart, formaler Ausdruck und Funktion liefern in den meisten Fällen einen Hinweis auf den Ursprung des Objekts. Natürlich gibt es unzählige Beispiele, deren Design so zeitlos ist, dass es heute genauso modern aussieht, wie es das vor fünfzig Jahren tat. Die Teilhabe an der industriellen Produktkultur lässt sich in einem Fall aber besonders deutlich erkennen. Wer einmal die Wohnung seiner Grosseltern ausgeräumt hat, weiss um die Vielzahl an Gebrauchsgegenständen, die einen Zeitgeist widerspiegeln, der für uns nicht mehr aktuell ist. Ein aufschlussreiches Phänomen in dieser Hinsicht ist der Übertritt ins Altersheim, denn er bedeutet eine Reduktion des Besitzes auf das Nötigste. Gert Selle schreibt dazu: “Vor allem ältere Menschen sind oft auf enge Bindungen an Dinge angewiesen. Manchmal ist kein Verwandter oder Freund mehr da, dann sorgen das „Einstweh“ und die „Altersverlorenheit“ für dichte emotionale Besetzung von Dingen, die ein Fremder für Plunder zu halten geneigt wäre.“

Das Untersuchen dieser Ebenen bringt uns indirekt zur Frage nach dem Wert, den wir einem Objekt zuschreiben: Ein sehr wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang ist die Erinnerungsbildung, was uns zu Selles’ zweiter Ebene führt.

Hölzerne Pferde designen


Neben meinem blauen Bauklotz steht ein kleines, hölzernes Pferdchen. Seine Funktion geht nicht über die Dekoration hinaus und obwohl ich mich nie besonders für Pferde begeistern konnte, behalte ich es. Denn ich erkenne und erinnere meinen Grossvater, an der hölzernen Figur wieder, die er mir geschenkt hat, als ich noch klein war. Dieser sentimentale Wert macht das Objekt – das ein anderer wohl als Plunder bezeichnen würde – zu einem wertvollen Gegenstand für mich. Ein Prozess, der auch als Erinnerungsbildung bezeichnet wird und in der Wertzuschreibung eines Objekts eine Schlüsselrolle übernimmt. Was heisst das für uns Designer:innen? Die Erinnerungsbildung ist ein persönlicher, individueller Prozess, den wir im Design nicht aktiv gestalten, vielleicht aber nutzen können. Beispielsweise in dem wir Objekte entwerfen, die Erinnerungen an die Kindheit hervorrufen oder die positive Assoziationen auslösen. Zu jedem Gegenstand, den wir besitzen, gibt es eine Geschichte – entweder zum Gegenstand selber, oder dazu, wie er in unseren Besitz gelangt ist. Diese Tatsache können wir aufgreifen und beeinflussen: Vielleicht beginnt das Design mit der Geschichte, die wir um ein Produkt generieren.


Die Geschichte macht ein Objekt zu unserem persönlichen Gegenstand, was uns zur dritten Ebene, die der sozialen Zugehörigkeit, bringt. Den eigenen Besitz aktiv wählen zu können, das ist eine Luxussituation. Mich mit der Tatsache befassen zu können, wie wichtig Produkte oder das Produzieren von Produkten, deren Funktion möglicherweise einem rein dekorativen Zweck dient, genauso. Ein Luxus, der unserer Konsumgesellschaft zuzuschreiben ist. Der Konsum ist ein paradoxes System; einerseits ermöglichen uns Produkte, unsere Individualität auszudrücken, gleichzeitig sind unsere Kaufentscheidungen geprägt von einem Streben nach sozialer Zugehörigkeit. Wir nutzen persönliche Gegenstände, um unsere Identität zu konstruieren. Denn Objekte kommunizieren und die Objekte, mit denen wir uns umgeben, kommunizieren unseren Lebensstil. Oder wie Paul Watzlawick das in seinem Axiom ausdrückt: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Unser Besitz wird so in manchen Fällen zu einem wichtigen Bestandteil der Persönlichkeitsbildung.


Der Tragweite dieser Tatsache wurde ich mir bewusst, als ich im Rahmen eines Selbstversuches meinen Besitz für eine Zeitlang auf hundert Gebrauchsgegenstände reduzierte. Ziel des Selbstversuchs war es einerseits, die psychologische Auswirkung, die diese Reduktion auf mich haben würde, zu untersuchen. Ausserdem wollte ich herauszufinden, welche Gegenstände ich in meinem Alltag wirklich brauchte. Ich lebte in einer kleinen Wohnung, umgeben vom Nötigsten und machte eine spannende Erfahrung. Die anfängliche Euphorie darüber, nicht mehr jeden Tag Entscheidungen über meine Kleidung treffen zu müssen, wurde bald von Ernüchterung abgelöst. Ich stellte fest, wie sehr ich mich daran gewöhnt hatte, meine Persönlichkeit mithilfe von Kleidung, Schmuck aber auch der Einrichtung meiner Wohnung auszudrücken. Die Absenz dieser Kommunikationsmittel fühlte sich an, als hätte ich einen Teil meiner Persönlichkeit verloren – schliesslich konnte ich meine Individualität nicht mehr an physischen Objekten festmachen. Um nicht weiter mit dieser anstrengenden Erkenntnis konfrontiert zu sein, suchte ich nach einer alternativen Ausdrucksmöglichkeit und begann meine freie Zeit produktiv zu nutzen. Mein gestalterischer Ausdruck erinnerte mich wieder daran, wer ich war. In Bezug auf Personen, die mich nicht kannten, funktionierte das aber nicht so gut.


Schliesslich befand ich, dass es mir eigentlich egal sein konnte, was Fremde sich anhand meiner Erscheinung für eine Meinung über mich bilden. Meine Persönlichkeit ist nicht abhängig von meinem physischen Besitz – eine befreiende Erkenntnis. Dennoch zeigte mir dieses Experiment, wie weitreichend die identitätsstiftende Komponente unserer persönlichen Gegenstände sein kann. Für das Gefühl einer sozialen Zugehörigkeit, aber auch um unsere Individualität auszudrücken. Was bedeutet das für das Verhältnis zu unserem Besitz?

Ich habe ein Verhältnis zu meinem Besitz

Persönliche Gebrauchsgegenstände sind wichtig, unser Verhältnis zu ihnen ist komplex. Die Gegenstände, mit denen wir uns umgeben, bilden unsere physische Lebenswelt. Diese verkörpert unsere Werte und unsere Geschichte, sie gibt uns Halt, weil sie uns daran erinnert, wer wir sind. Unser Besitz ist in manchen Fällen ein wichtiger Bestandteil unserer Persönlichkeitsbildung. Denn Objekte kommunizieren. Die Objekte, mit denen wir uns umgeben, sprechen über unseren Lebensstil. Das heisst aber nicht, dass unsere Persönlichkeit von physischen Gegenständen abhängt. Wir müssen keine neue Sportkleidung kaufen, damit wir zu einer sportlichen Person werden – auch wenn wir uns manchmal wünschen, dass es so einfach wäre. Die Objekte in unserem Alltag bieten uns Stabilität, weil wir sie emotional besetzen und weil sie Gewohnheiten schaffen. Wir strukturieren unsere Aussenwelt und damit auch unser Inneres, ob bewusst oder unbewusst, und das ist gut so.

von Géraldine Waespi

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