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Moritz Gysi

Index 1: Zwischen Gemischtwarenladen, Autorendesign und sozialer Relevanz

Ein Interview mit Sandra Kaufmann, Co-Leiterin Bachelor in Industriedesign.


«Nein, ich studiere an der ZHdK und nicht an der ETH!»


Auf unser Studium angesprochen, sehen wir angehenden Industriedesigner:innen uns häufig in Erklärungsnot geraten. Denn unser Studiengang scheint zwar vielen ein Begriff zu sein, doch um unsere eigentliche Tätigkeit wissen die wenigsten Bescheid. Häufig bekommt man Aussagen wie «Ihr macht doch die Dinge schön?» oder «Ah, also Maschinen und so?» oder auch ein simples «Toll, das hat sicher Zukunft!» zu hören.

Wir haben bei Sandra nachgefragt, was unsere Disziplin nun eigentlich ausmacht.

Vielen Dank Sandra, dass du dir Zeit für uns genommen hast! Du hast selber Industriedesign an der ZHdK beziehungsweise damals noch HGKZ studiert bevor du 2012 wieder als Co-Leitende zurückgekehrt bist. Wie hat sich die Ausrichtung der Vertiefung Industrial Design (VID)verändert, seit du deinen Abschluss gemacht hast?

Da ist sehr viel passiert! Als ich studierte, hiess der Studiengang noch Produktgestaltung und Innenarchitektur. Möbeldesign war damals viel wichtiger als heute. Die Schule hatte in diesem Bereich mit Persönlichkeiten wie Willy Guhl eine grosse Tradition. Als ich 1999 das Studium abschloss, war dies das erste Jahr unter dem neuen Namen «Industriedesign». Der Studiengang fusionierte mit «Schmuck und Geräte» und stellte letztlich eine Art Gemischtwarenladen dar. Wir haben alles entworfen, von der Zahnbürste bis zur Produktionsanlage. Als ich dann 2012 in die Co-Leitung mit Nicole gewählt wurde, bekamen wir den Auftrag den Studiengang neu zu positionieren.

Wie habt ihr die neue Ausrichtung entwickelt?

Wir machten eine breit abgestützte Analyse der internationalen Hochschullandschaft und untersuchten, was sich für Trends abzeichnen. Dazu führten wir Interviews mit Vertreter:innen verschiedener Bildungsinstitutionen, um zu prüfen ob unsere Ideen auf Anklang stossen. Schliesslich galt es unsere Vorgesetzten und später das gesamte Team zu überzeugen. Da unsere Strategie eine einschneidende Veränderung bedeutete, war das nicht so einfach. Wir hatten jedoch das Glück, ein motiviertes Team zu haben, welches wir beibehalten konnten, um diese tiefgreifende Umstrukturierung gemeinsam zu meistern.

Was bedeutete dieser Umbruch dann konkret für den Studienalltag?

Technologische Innovation, soziale Relevanz und Ökologie waren fortan inhaltliche Schwerpunkte der Bachelor-Ausbildung. Das Dreieck, welches dir wohlbekannt sein dürfte, symbolisiert die Beziehung dieser Kernthemen zueinander. Dann wurde die Zusammenarbeit mit der ETH intensiviert: Mit Mirko Meboldt, Professor für Produktentwicklung und Konstruktion, gründeten wir das Design and Technology Lab, ein hochschulübergreifendes Innovationsprojekt der ZHdK und ETH. Zusätzlich wurde der Bachelor in Industriedesign stärker mit dem Departement Maschinenbau und Verfahrenstechnik an der ETH verknüpft. Denn Ingenieur:innen finden nach dem Studium problemlos eine Arbeit, für Designer:innen ist dies schwieriger. Wenn diese jedoch im ETH-Netzwerk Fuss fassen können, dann haben sie gute Chancen in die Start-up-Welt zu gelangen. Angehende Ingenieur:innen erkennen in unseren interdisziplinären Lehrformaten, was für eine wichtige Rolle Designer:innen in der Produktentwicklung spielen können.

Da steckten also auch arbeitsmarktliche Überlegungen dahinter?

Ja, das stimmt. Es ging darum ein Designbedürfnis vonseiten der Start-ups zu schaffen. Diese sollten erkennen, dass Designer:innen gut in interdisziplinären Teams arbeiten und unkonventionelle, überraschende Lösungsansätze finden. Wir wollten wegkommen vom Autorendesign und Designer:innen, die ihre Formsprache über alles stellen. Der Fakt, dass Ästhetik nicht Teil unseres Dreiecks war, entfachte grosse Diskussionen in unserem Fachbereich.

Und wie habt ihr euch da positioniert?

Wir haben einen Kreis um das Dreieck gezogen. Dieser steht für Ästhetik und für unsere Hochschule. Denn du kannst Design auch an einer technischen Hochschule wie zum Beispiel Lund studieren, wo dieser Kreis wahrscheinlich für Technologie stehen würde. Da wir aber an einer Kunsthochschule verortet sind, versteht es sich von selbst, dass Ästhetik immer mitschwingt. Sie ist unsere Basis und nicht wegzudenken. Ich persönlich kann gar nichts Hässliches kreieren, es sei denn, das ist explizit erwünscht. Meiner Meinung nach sollten sich Designer:innen aber auf einen darüber hinausreichenden Mehrwert konzentrieren. Auf eine schöne Form allein hat niemand gewartet. Darum haben wir uns auch bewusst von einer ECAL abgesetzt. Diese hat sich zwar mittlerweile auch etwas «technischer»

positioniert, bietet jedoch eher Autorendesign an. Das hat natürlich auch seine Berechtigung und wir behaupten nicht, dass unsere Strategie die einzig richtige sei. Es ist vielmehr eine Grundsatzentscheidung. Wenn du dich für Kunsthandwerk interessierst oder später mal für Louis Vuitton arbeiten möchtest, dann ist die ECAL die bessere Wahl. Wenn dich aber technische Neuerungen interessieren, wenn dir Relevanz wichtig ist, dann bist du bei uns am richtigen Ort. Und Relevanz haben wir knallhart definiert. Dass die Tasse beim Frühstück schön aussieht, reicht für uns definitiv nicht mehr aus.

Das finde ich einen interessanten Punkt. Ist es denn so, dass formalästhetische Überlegungen bei Projekten wie zum Beispiel dem Scewo in den Hintergrund rücken?

Der Scewo überraschte mich ziemlich. Anfangs hatte ich diesem Projekt nicht viele Chancen gegeben, unter anderem wegen der Grösse und des Gewichtes. Ich fand es zwar beeindruckend, wie sich Thomas damals engagierte, dachte mir jedoch, dass der Scewo irgendwie zu maschinell aussah. Die neue Version hingegen ist durchdacht und einheitlich gestaltet. Das ist ein grosser Schritt und findet bei der Nutzergruppe auch gebührend Anklang.

In diesem Fall ist es trotzdem wichtig, wie das Ganze ausschaut. Wieso hat der Kreis dann nicht seinen fixen Platz um das Dreieck bekommen, wenn Ästhetik unsere Basis bildet?

Weil der Tag nur aus 24 Stunden besteht und das Bachelor Studium nur drei Jahre umfasst. Das bedeutet nicht, dass formale Gestaltung unwichtig ist, im Gegenteil. Aber ich halte es für wesentlich, dass man versucht Design darüber hinaus mit einem Beitrag an die Gesellschaft zu verbinden.

Design und Innovation werden oft im selben Atemzug genannt. Der eng damit verwobene Begriff «Design-Thinking» hat Hochkonjunktur und es bildete sich eine ganze Workshop-Kultur darum. Wie gehen wir damit um wenn plötzlich alle designen?

Design-Thinking-Workshops machen noch keine Designer:innen, dafür ist unsere Disziplin viel zu anspruchsvoll. Wenn Ingenieur:innen einen Design-Thinking-Kurs besuchen, haben sie vielleicht einen konzeptionellen Ansatz zur Hand und aufgrund ihrer Ausbildung ein fundiertes technologisches Wissen. Doch gerade bei Themen wie zum Beispiel der Nutzerorientierung, haben Designer:innen einen viel weiteren Horizont.

Was aber genau ein Kernbegriff des Design-Thinkings ist; die Nutzerorientierung…

Theoretisch verstehen das wahrscheinlich viele. Aber die gewonnenen Erkenntnisse auf ein Produkt oder ein System zu konkretisieren, das bewältigen vor allem Designer:innen. Sie werden darin ausgebildet, einen Auftrag aus allen Nutzer:innenperspektiven zu prüfen und die damit verbundenen Anforderungen an ein Produkt nachzuvollziehen.

Ingenieur:innen fragen sich erfahrungsgemäss weniger, ob sich ein Produkt beispielsweise auch gut von einer 80-Jährigen Frau bedienen lässt. Designer:innen hingegen merken sofort, dass diese eventuell eine Sehschwäche haben und auch nicht mehr so gut hören könnte. Diese Empathie herzustellen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse in Lösungsvorschläge einzubinden, braucht viel Übung. Denn Designer:innen arbeiten in komplexen Spannungsfeldern zwischen Technik und Marketing, Produktion und Logistik. Sie bringen ökologische, soziologische und ökonomische Ansprüche unter einen Hut. Kommunikation spielt in unserer Disziplin eine Schlüsselrolle. Darum finde ich auch den Theorieunterricht so wichtig. Früher hast du als Designer:in eigentlich nicht sprechen müssen. Du hast einen Stuhl gemacht und der gefiel oder nicht. Heute muss man sich erklären. Man muss sich rechtfertigen. Ein von Empathie, Sinnlichkeit und Ästhetik ausgehender Entwurf bedarf heute einer rationalen Begründung und argumentativ überzeugenden Herleitung.

Das bedeutet, die Arbeit wird auch ein Stück politischer?

Sie ist total politisch. Man muss nicht nur firmenintern verhandeln, sondern arbeitet auch an der Schnittstelle zu staatlichen Instanzen. Es gibt Interessenskonflikte zwischen verschiedenen Institutionen, aber auch zwischen Industrie und Gesellschaft. Diese spiegeln sich gerade in so komplexen und vernetzten Prozessen wie der Produktentwicklung wieder.

Die Kommunikation von Ideen an verschiedene Prozessbeteiligte ist also eine wichtige Kompetenz von Designer:innen. Man muss ein Konzept verschiedenen Parteien vermitteln können. Hängt das nicht stark mit unserer Fähigkeit, Ideen zu visualisieren, zusammen?

Ja, da wären wir wieder bei der Ästhetik angelangt. Das Zeichnen – egal ob im CAD oder mit dem Stift – ist unser Handwerk. Im Gegensatz zu Ingenieur:innen können wir mit Mitteln wie Skizzen, Modellbau oder CAD-Modellen Ideen sinnvoll visualisieren und vermitteln.

Da kommt auch der Aspekt des «Machens» ins Spiel. Wenn man an den Punkt kommt, wo man sich fragt: «Ja, wie sieht das nun aus?», gilt es, die verschiedenen Teilaspekte einer Idee in einem Produkt zu vereinen. Nun kommen diese «Sachzwänge» ins Spiel. Es gibt zahlreiche Player und Konditionen, die man nicht umgehen kann. Im Berufsalltag ist das die Realität. Da gilt es möglichst viel herauszuholen, aber auch kompromissbereit zu sein. Das ist unser Beruf.

Martin Herrndorf schreibt, dass Designer:innen in ihren Ambitionen für nachhaltige Produkte durch politische und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen beschränkt werden[1]

Das ist vielleicht einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Design und Kunst: Wir sind mit vielen Rahmenbedingungen konfrontiert. Designer:innen lieben das aber. Es ist unsere Aufgabe mit Parametern zu spielen und das Optimum aus ihnen rauszuholen. Wir suchen Kompromisse und versuchen in einem engen Rahmen Mehrwert zu schaffen. Wir sind Weltverbesserer, auch wenn das in der Realität oft mühsam und schwer erscheint, wie ein Tropfen auf den heissen Stein.

Wir sind also Weltverbesserer, deren Bestrebungen klare systemische Grenzen gesetzt sind. Sind die Versprechen von sozialer Relevanz und Nachhaltigkeit nicht etwas anmassend? Mich stösst der Gedanke, dass alle Probleme Ausdruck mangelnder Innovationskraft sind. Als gäbe es keine politische und strukturelle Dimension, keine ungleichen Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft.

Gestern Abend war ich an einer Veranstaltung im Zürcher Landesmuseum. Thema war die «10-Millionen-Schweiz» und auf dem Podium stand unter anderen Ex-Bundesrätin Doris Leuthard. Ihr Expertenteam war sich darin einig, dass die Herausforderungen einer «10-Millionen-Schweiz» zu bewältigen sind. Frau Leuthard stellte allerdings fest, dass man keine Vision davon hatte, wie diese tatsächlich aussehen könnte. Niemand machte sich Gedanken darüber, wie diese Schweiz der Zukunft so gestaltet werden könnte, dass die Bevölkerung sie als erstrebenswert und lebenswert empfand. Das wäre genau der Punkt, wo Designer:innen ins Spiel kämen. Denn Entscheidungsträger:innen benötigen Bilder von fiktiven oder tatsächlichen Projekten, die ihre Visionen unterstützen.

Diese zu gestalten ist eine Möglichkeit den Rahmen des Denkbaren zu verschieben und darum denke ich nicht, dass wir politischen Rahmenbedingungen einfach machtlos ausgeliefert sind. Ich denke vielmehr, dass hier interessante Wechselwirkungen möglich sind. Um nochmals auf Deine Frage zurückzukommen: Klar können wir nicht Hunger und Krieg beenden. Aber wir können beispielsweise ein Altersheim so gestalten, dass sich die Leute dort wohlfühlen. Das heisst dann vielleicht auch nicht mehr Altersheim, sondern Alters-WG oder Mehrgenerationenhaus.

Weisst du, ich finde die Qualität dieser Ausbildung liegt nicht nur in den grossen Ideen. Man darf das Kleine nicht vergessen. Dieser Studiengang bildet euch aus, damit ihr komplexe Probleme erfassen, analysieren und angehen könnt. Damit ihr Dinge neu zusammensetzt. Damit ihr lernt, mit diesen Bausteinen zu spielen. Im Grossen sowie im Kleinen – in den Details. Darum denke ich, dass das eine sensationelle Grundausbildung ist. Egal, in welche Richtung ihr euch nachher bewegt.


von Moritz Gysi

 

[1] Simone-Fuhs Karin, Brocchi Davide, Maxein Michael, Draser Bernd, Die Geschichte des Nachhaltigen Designs, Verlag für Akademische Schriften in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung, 2013

 

Das war unsere Nr. 1! Gerne möchten darauf hinweisen, dass wir mit dem Index den Diskurs an unserer Hochschule und darüber hinaus anregen möchten.

Das funktioniert nicht ohne dich und wir würden uns sehr über deine Anregungen und kritische Kommentare zu unserem ersten Beitrag freuen.


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